Am Anfang war die Idee, die aus einer empfundenen Notwendigkeit heraus entstand. Daraus entwickelten sich Projekte, die Begeisterung hervor riefen. Im Schneeballeffekt mobilisierte dies Akteure gleichermaßen wie Ideen, woraus eine Reihe von Initiativen entstand.
Im Herbst 2006 lehnte man sich zurück und suchte den Überblick. Das ?Haus? sollte ein klares Fundament bekommen, einen stimmigen Aufbau, und es sollte darin eine gute Entwicklung zulassen. Damit gibt sich die arcus raetiae erstmals ein Dokument, in dem Ziele und Perspektiven komprimiert zusammengefaßt werden.

  1. 01

    Kulturbegriff:
    arcus raetiae geht von einem Kulturverständnis aus, das Kultur nicht als der Zivilisation oder dem Alltag der Menschen gegenüberstehend begreift. Kultur ist im Alltag verankert, Kultur ereignet sich im Vollzug des täglichen Lebens. Kultur ist somit selbst Teil der Entwicklung des Lebens. Einerseits formt Kultur den Menschen in seiner Sozialisation, andererseits ist jeder selbst Gestalter und Veränderer der Kultur. Kultur ist dabei geprägt durch Bewahren, ständiges Neuschaffen, Weiterentwickeln, und damit Ausdruck einer sich entwickelnden Gesellschaft. Dabei kann Kultur nicht von einigen wenigen geschaffen und von vielen anderen konsumiert werden. Jeder einzelne ist eingebunden in den Prozess der Kulturarbeit. Kultur ereignet sich. Diesem Kulturverständnis nach versucht arcus raetiae Kultur aus dem Alltag aufzugreifen um schlussendlich gesellschaftliche Entwicklung zu fördern. Kultur wird nicht dargeboten, sondern ihr wird ?Raum? gegeben, damit sie sich ausdrücken, sich experimentierfreudig und spielerisch entwickeln kann.

  2. 02

    Geschichte:
    Der Kulturverein arcus raetiae hat sich 1999 aus Anlaß des 500. Gedenkjahres der Schlacht an der Calven gegründet. Man/Frau wollte den üblichen Gedenkfeiern etwas hinzufügen, was über das Gedenkjahr hinausging. Daraus entwickelten sich nunmehr 10 Jahre spannenden kulturellen Engagements im Dreiländereck. Zunächst stand jede Aktion für sich da. Bald wurde der rote Faden in allen Projekten transparent und verband sie zu einem Netzwerk, das nun neue Horizonte eröffnet.

  3. 03

    Ziele:
    Das ursprüngliche Ziel war der kulturelle Austausch im Dreiländereck. Das gegenseitige Kennenlernen, das Interesse an der jeweils anderen ?Welt? und gemeinsame Projekte standen im Vordergrund. Im Laufe der nunmehr acht Jahre haben sich die Ziele erweitert bzw. verfeinert und lassen sich im Moment folgend darstellen:

    1. 04

      Die kulturelle Auseinandersetzung gehört in den Alltag.
      Kulturelles Engagement erinnert uns heute zum Teil an die Meßfeier am Sonntag, die in der Regel mit unserer Religiosität unter der Woche kaum etwas zu tun hat. arcus raetiae ist getragen von der Überzeugung, daß die kulturelle Auseinandersetzung nur dann Sinn macht, wenn sie im Alltag verankert ist und dabei auch den Alltag zum Inhalt hat. Die Kultur in der Freizeit und der Event per se haben auch ihre Berechtigung, tragen aber schlußendlich wenig zu einer Belebung der Alltagskultur und der ländlichen Region bei.

    2. 05

      Förderung eines gesunden Selbstbewußtseins in der ländlichen Region
      Die Meinung, in der Stadt und irgendwo anders sei alles besser, ist viel tiefer in der ländlichen Region verwurzelt, als man glauben möchte. Das rührt auch davon her, daß der Großteil der heimischen Bevölkerung wenige andere Realitäten kennt und sich mehr in den ?bekannten Gefilden? bewegt. Die kulturelle Auseinandersetzung, wie sie arcus raetiae versteht, hebt die Realität der ländlichen Region mit ihren Qualitäten und Eigenheiten ins Bewußtsein und setzt sich damit auseinander. Dabei spielen Reflexion und Utopie gleichermaßen eine zentrale Rolle. Unterm Strich soll eine Begeisterung für die Landschaft, für die Kultur, für eben diese Lebensqualität ?geschürt? werden, indem auch klar aufgezeigt wird, was mögliche Perspektiven sind. Und dies alles nicht losgelöst von ökonomischen Realitäten, sondern darauf aufbauend. arcus raetiae ist der Überzeugung, daß die kulturelle Auseinandersetzung die Basis oder der Motor für eine gesunde ökonomische und ökologische Entwicklung ist. Das Globale kann nur im Lokalen und schlussendlich nur im einzelnen Menschen lebendig werden.

    3. 06

      Vielfalt statt Einfalt
      Die Vielfalt im Dreiländereck ist beeindruckend: auf engstem Raum finden wir drei Sprachen, drei Landschaften, drei nationale Realitäten, drei Kulturen, drei Traditionen... . Der Alltag hat uns den Blick dafür genommen. Es ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Es liegt an uns, diese Vielfalt neu zu entdecken und an ihr zu wachsen.

    4. 07

      Austausch mit dem ?Fremden?, um selbst zu ?wachsen?
      Der Austausch belebt den eigenen Geist. Nicht nur das gegenseitige sich Messen, sondern das gegenseitige sich Beflügeln trägt dazu bei, an der eigenen Entwicklung zu arbeiten. Der Austausch liefert auch Distanz. Fremde Augen sehen anders und können auf vieles aufmerksam machen. Es tut auch gut zu sehen, wie andere von uns lernen.

    5. 08

      kultureller Austausch im Dreiländereck
      Die drei Regionen Vinschgau (I), Münstertal/ Unterengadin (CH) und das Obere Gericht sind durch die nationalen und zum Teil auch orographischen Grenzen voneinander getrennt. Diese Grenzen haben sich in den Köpfen und in den Herzen festgesetzt. Sie haben erreicht, daß es untereinander wenig zu ?sagen? gibt. arcus raetiae ist überzeugt, daß die kulturelle Vielfalt erst zum Tragen kommt, wenn Bewohner sich einander begegnen und sich austauschen, wenn sie miteinander Ziele vereinbaren und dabei ihre ?Seele? bewahren.

    6. 09

      Grenzen nicht abschaffen, sondern überwinden
      Grenzen sind eine natürliche Realität, ja ein natürliches Gesetz. Der Zeitgeist möchte vermitteln, daß Grenzen abgeschafft werden können. Wenn wir im Dreiländereck die Grenzen abschaffen, dann sind wir ein Niemandsland. Die Grenzen sind unsere Herausforderung, sie sind unsere Chance. Und die Grenze hat viele Gesichter, nicht nur das nationale oder orographische, denken wir nur an die menschlichen Grenzen. arcus raetiae möchte die Grenze ernst nehmen, die Grenzen um uns und die Grenzen in uns, und Wege suchen, wie wir sie überwinden und dabei uns ?beschenken? können.

  4. 10

    Struktur

    1. 11

      Gemeinnütziger Kulturverein
      arcus raetiae ist ein gemeinnütziger Kulturverein mit je einem Sitz in Mals (Obervinschgau), Martina (Münstertal/ Unterengadin), Nauders (Oberes Gericht). Er zählt heute 12 Mitglieder. Seit 2006 verfügt er über ein eigenes Büro in Mals. Alle drei Jahre wird der Vorstand neu gewählt, wobei das Statut festlegt, daß der Vorstand aus je einem Mitglied der drei Länder besetzt werden muß.
      Die Leistungen der Mitglieder erfolgen ehrenamtlich.

    2. 12

      Freundeskreis
      Im Jahre 2005 hat die arcus raetiae einen Freundeskreis ins Leben gerufen. Die vielen Freunde und Gönner sollten die Möglichkeit erhalten, die Tätigkeit des Vereins finanziell zu unterstützen.
      Die Mitglieder bezahlen einen Jahresbeitrag, sie erhalten eine CD mit Mitschnitten des Festivals XONG und ermäßigte Eintritte zu allen Veranstaltungen. Die Beiträge werden als finanzielle Starthilfe für neue Projekte verwendet.

    3. 13

      Finanzen
      arcus raetiae finanziert ihre Tätigkeiten durch Beiträge der öffentlichen Verwaltungen im Dreiländereck, durch Förderungen von Stiftungen und Privateinrichtungen, durch Sponsoren und nicht zuletzt durch Eigenleistungen, sprich Eintritte und Beiträge zu Veranstaltungen. Die Mitglieder bezahlen keinen Mitgliedsbeitrag.

  5. 14

    Vom Gedanken zur Arbeit

    1. 15

      Projekte

      1. 16

        XONG
        Felix Gysin hatte in den Jahren 1992/93 den Kultursommer Basel ins Leben gerufen. arcus raetiae hatte ihn 1998 besucht, weil sie der Meinung war, sie müsse nicht alles neu erfinden. Felix Gysin hörte sich die Ideen und Wünsche an und meinte, wenn arcus raetiae möchte, daß die Menschen über die Grenzen gehen, dann müsse etwas geboten werden, was die Menschen in Bewegung setzt. Damit schlug die Geburtsstunde des Festivals XONG, Volksmusik aus Grenzregionen. Als reines Musikfestival verschrieb sich XONG der Volksmusik als unmittelbaren Ausdruck dessen, was erlebt wird, und zwar an der Grenze. ?An den Grenzen entsteht das Leben. Der Streit und die Fragen. Jenseits von Grenzen erwarten wir eine andere Welt ? doch allzu oft begleitet von Unwissenheit, Abneigung, Ansprüchen, Angst? (Stundenweg, von Kloster zu Kloster - Tafel 3). XONG bot in den ersten Jahren einen Ort der Begegnung aller drei Volksgruppen. Auf der Bühne standen Musikanten, die ihre Musik pflegen und entwickeln, die dadurch beitragen, Grenzen zu überwinden.
        XONG nahm zur Kenntnis, daß Volksmusik nicht auf die Bühne gehört, sondern ?unter das Volk?. Daher wurde in das Programm 2001 die Wirtshausmusik aufgenommen. Im Jahr der Berge, 2002, überwand XONG die Grenzen und dehnte das Festival über den Vinschgau in das Dreiländereck aus. In geführten Kulturwanderungen wurde die Landschaft erkundet und neu entdeckt. Damit mutierte das Musikfestival langsam aber konsequent zu einem Kulturfestival. Ab diesem Jahr wurde auch die erste Musikwerkstätte eingeführt. Nicht vom Blatt spielen, sondern ?auswendig? spielen war die Devise. Die Spiel- und Theaterwerkstatt für Kinder war fixer Bestandteil von Anfang an. Mittlerweile gibt es 4 Musik-, drei Kinder- und 2 Jugend-Werkstätten. 2005 kam der Wettbewerb Wirtshaus XONG dazu, im Jahr 2006 waren die Hoffeste neu und im Jahr 2007 wird zum ersten Mal in einem Dorf Theater gespielt, unter dem Motto: ?Da, wo wir leben ? uns selbst zusehen?.

      2. 17

        Märkte
        1642 wurde Mals durch Claudia von Medici zur Marktgemeinde erhoben und bekam aus diesem Anlaß zwei Märkte geschenkt, den Georgi- (Pflanzmarkt) und den Gollimarkt (Viehmarkt). Der Georgimarkt wurde in den 60er Jahren durch den Wochenmarkt verdrängt und der Gollimorkt zählte 1998 noch zwei Stände. arcus raetiae bediente sich dieser Markttradition und belebte diese Märkte neu, so daß sich an diesen beiden Tagen (23. April, 16. Oktober) jeweils rund 5.000 Menschen aus dem Dreiländereck und weit darüber hinaus in Mals treffen. Hochwertige Waren aus der Landwirtschaft, aus dem Handwerk und aus der Region gepaart mit gepflegter heimischer Küche, Musik und Kleinkunst bilden dazu den Reiz. Im Jahr 2009 gab arcus raetiae nach 10jähriger Aufbauarbeit die Verantwortung an Kräfte in Mals weiter.

      3. 18

        BAUSTELLE
        Im Jahr 2000 führte arcus raetiae erstmals ein Architektursymposium durch: ?Architektur und regionale Identität?. Daraus entstand die BAUSTELLE, die ab 2005 einmal im Jahr Bauherrn, Planer, Handwerker, Lehrer, Kulturarbeiter und Künstler für zwei Tage zusammenführt. Themen, die unter den Nägeln brennen, bestimmen die BAUSTELLE im wahrsten Sinn des Wortes und fordern eine prozeßhafte und von allen Beteiligten getragene Entwicklung in der Gestaltung von Lebensraum.

      4. 19

        Symposium
        Im Jahr 2000 führte arcus raetiae die Kirche in der Grenzregion zusammen. Alle drei Bischöfe der katholischen Kirche gemeinsam mit dem Bischof der reformierten Kirche, dem Vorsitzenden der Lutherischen Kirche in Meran und vielen Pfarrern im Dreiländereck trafen sich im Kloster Marienberg, lernten sich kennen, tauschen ihre Ideen und Wünsche aus und beschlossen, sich ab da immer wieder auszutauschen. arcus raetiae hat den Startschuß dazu gegeben und wird in 5jährigen Abständen ein Symposium zu einem gewünschten Thema organisieren. 2005 wurde im zweiten Symposium die Geschichte der Kirchen im Dreiländereck reflektiert und anhand des Hl. Florinus aus Matsch eindrücklich dargestellt.

  6. 20

    Fazit
    Das Engagement und die Kulturarbeit der arcus raetiae erzeugt Wirkungen in vielen Bereichen des Lebens im Dreiländereck. Einige dieser Aus-wirkungen auf die soziale, ökologische und ökonomische Entwicklung im Dreiländereck lassen sich schon jetzt ablesen und deuten an, welches Potential darin vorhanden ist.

    1. 21

      Wirkungen im kulturellen Miteinander
      Eines der zentralen Ziele ist bereits in den ersten Jahren in Erfüllung gegangen: Es gibt einen regen Austausch im Dreiländereck. Man/ frau ist bereit über die Grenze ins Nachbarland zu gehen, zum Wandern, zum Baden, zum Essen, zu kulturellen Anlässen und zu Freizeitveranstaltungen, zum Sich-kennen-lernen. Die Begegnung und der Austausch sind die Voraussetzung für eine kreative Nutzung und Weiterentwicklung der Vielfalt im Dreiländereck. Durch das Kennenlernen der Lebenswelten und der Menschen entstehen auch über die Tätigkeiten des Kulturvereins hinaus Vernetzungen und Initiativen. So verankert sich der Austausch im Alltag der Bevölkerung des Dreiländerecks und gestaltet das kulturelle Miteinander über die Grenzen hinweg.
      Auch der Austausch innerhalb der christlichen Kirchen wurde soweit institutionalisiert, daß in regelmäßigen Abständen Treffen stattfinden, bei denen die Anliegen gemeinsam vorangetragen und diskutiert werden.
      Nicht uninteressant scheint der Aspekt, daß durch die verschiedenen Projekte die Bevölkerung im Dreiländereck auf die Qualitäten vor der Haustür aufmerksam wird und wieder verstärkt in diese Landschaft investiert. Die Diskussion über die Lebensqualität im ländlichen Raum spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Entsiedelung wird durch eine verstärkte kulturelle Auseinandersetzung maßgeblich eingebremst.

    2. 22

      In ökologischer Hinsicht
      Durch die Märkte wurde die Sensibilität für autochthone Sorten, für Bioprodukte aus der Landwirtschaft und für die Kreisläufe in der Landwirtschaft gesteigert. Nachhaltige und biologische Landwirtschaft stärken die Natur. Die Einbettung der Kultur in die Landschaft und die Wertschätzung der Landschaft in den kulturellen Aktivitäten und dadurch vermehrt im Alltag kommen der Natur und dem Menschen zu Gute. Und nicht zuletzt konnte durch die verschiedenen Initiativen aufgezeigt werden, welches Potential vor unserer Haustür liegt und genutzt werden kann.

    3. 23

      In ökonomischer Hinsicht
      Das Festival XONG und die Märkte haben gemeinsam mit den anderen Initiativen der arcus raetiae das Image des Dreiländerecks und im Besonderen jenes des Obervinschgaus aufgebessert. Auf den Obervinschgau wurde eine Gästeschicht aufmerksam, die der Landschaft und den Menschen gut tut. Sie findet genau das, was den Vinschgau wohltuend von anderen Regionen unterscheidet. Alle Projekte ziehen viele Menschen an und zeigen besondere Qualitäten in der Landschaft. Über die Projekte lernen die Menschen ein Tal kennen, welches sie in besonderer Erinnerung behalten.
      Der Wettbewerb ?Wirtshaus XONG? hat transparent gemacht, wie groß das Bedürfnis der Kunden nach Angeboten aus der Landschaft ist. Dadurch stärkt die Kultur die nachhaltige Produktion von Lebensmitteln und damit auch eine Lebensgrundlage der Landwirtschaft.
      Die BAUSTELLE baut auf jenes Image des Vinschgaus auf, welches ihn in den vergangenen Jahrzehnten immer ausgezeichnet hat: das Tal der besonderen Architektur. Dabei spielt die Architektur ebenso in den Kreisläufen vor Ort eine zentrale Rolle und kann dadurch eine große Wertschöpfung erzielen.
      Das gestärkte Selbstbewusstsein der Region, der ländlichen Region als KulturRaum, als LandschaftsRaum und als LebensRaum ist zentrales Anliegen der Tätigkeiten von arcus raetiae. Kulturarbeit ist Investition in die Zukunft und sie ist ein Beitrag zu einer nachhaltigen und ganzheitlichen Gestaltung und Entwicklung der Gesellschaft und des Menschen in seinem Lebensumfeld.


Armin Bernhard
Konrad Meßner

Im Fluß der Zeit - eine Momentaufnahme

Kulturverein arcus raetiae www.raetia.net
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